Schuld

Der ästhetische Mensch kennt keine Schuld, weil er sein Leben seinen Leidenschaften allein widmet, ohne Rücksicht auf etwas anderes zu nehmen. Er bereut nichts, fühlt sich nicht schuldig. In den von Victor Eremita herausgegebenen Papieren findet sich die Ansicht, dass die Schuld dem Individualismus entspringt. Ein Individuum kann nicht mehr sein Schicksal, seinen Stamm und dessen Götter für sein Leid verantwortlich machen. Das Individuum ist alleine seines Glückes Schmied. Diese Verantwortung, alles unter Kontrolle zu haben, ist kaum zu ertragen. Das Religiöse bringt Erlösung und befreit mittels eines Ritus von der individuellen Schuld.

Nietzsche stellt dieses Verhältnis vom Ästethischen und Religiösen auf den Kopf und sagt, dass die Schuld erst durch das Religiöse in die Welt kommt. „Nur aesthetisch giebt es eine Rechtfertigung der Welt. Gründlicher Verdacht gegen die Moral (sie gehört mit in die Erscheinungswelt).“ (Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, 2 [110], Zur „Geburt der Tragödie“).

Dem modernen Menschen ist das Religiöse genauso fremd wie das Ästhetische, deswegen steckt er zwischen diesen 2 Stadien, im Ethischen: sei ein treuer Freund, ein guter Familienmensch, ein rechtschaffener Bürger. Aber kein Mensch ist unfehlbar. Und man verschuldet sich immer mehr und schämt sich dafür, was er getan oder nicht getan hat.

Eine neue Weisheit lehrt, dass wir an unserem Leid selbst schuld sind, weil wir falsch denken. So versuchen wir richtig zu denken und unser Leid unter Bergen eingeprägter Parolen zu vergraben: „Hauptsache glücklich sein“, „weniger denken“, „sei du selbst“, „denke positiv“.

Das moderne Ethische hat keine Begründung, keinen Halt. Es ist einfach da, ab dem Moment, in dem unsere Mutter uns verbietet, Finger in eine Steckdose zu stecken, bis zum Moment, in dem wir unsere krankhaften Augen eines Morgens vor Scham und Schmerzen nicht mehr öffnen können. Dieses Herumirren im Ozean des Ethischen haben wir irrtümlicherweise als Freiheit oder freie Entfaltung bezeichnet. So sind wir entweder daran schuld, dass wir keine rechtschaffenen Bürger, guten Nachbarn, treuen Ehegatten sind, daran, dass wir nicht normal sind; oder eben daran, dass wir rechtschaffene Bürger, gute Nachbarn, treue Ehegatten sind, daran, dass wir normal sind (denn wir seien dann offensichtlich nicht wir selbst, sondern wir spielen eine Gesellschaftsrolle). „Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es auch bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides.“ („Entweder-Oder“, Sören Kierkegaard). So versucht der Mensch glücklich zu sein und scheitert, und fühlt sich deswegen schuldig, weil die wahre Glückseligkeit nach Plato unabhängig von allen äußeren Faktoren sei, und verzweifelt daran, dass er nicht stark genug sei, glücklich zu sein.