Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 2. Gesellschaftliche Dimension der Kunst

Die Bedeutung der Kunst endet nicht mit der Frage, welche Position sie im Leben eines Individuums einnimmt. Nietzsche versucht seinen Kunstbegriff auf größere Menschenmengen zu beziehen, um damit gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse zu erklären, oder mindestens zu schauen, welche Auswirkung die Kunst oder die einzelnen Künstler auf die menschliche Gesellschaft und Kultur haben.

In einer Aufzeichnung von 1885 schreibt Nietzsche Folgendes:

„Die mathematischen Physiker können die Klümpchen-Atome nicht für ihre Wissenschaft brauchen: folglich construiren sie sich eine Kraft-Punkte-Welt, mit der man rechnen kann. Ganz so, im Groben, haben es die Menschen und alle organischen Geschöpfe gemacht: nämlich so lange die Welt zurecht gelegt, zurecht gedacht, zurecht gedichtet, bis sie dieselbe brauchen konnten, bis man mit ihr ‚rechnen‘ konnte.“1

Es existiert also keine „objektive Welt“. Die Menschen erdichten ihre eigene Welt, in der ihnen am Besten zu Mute ist, in der sie leben können und wollen. Und dies ist genau, das was bereits für den jungen Nietzsche eine menschliche Kultur ausmacht. Das Dionysische ist das Fundament auf dem die Kulturen entstehen, „der ungeheure Lebensprozess selbst, und Kulturen sind nichts anderes, als die zerbrechlichen und stets gefährdeten Versuche, darin eine Zone Lebbarkeit zu schaffen“.2

Im Zusammenhang mit der menschlichen Kultur führt Nietzsche den Krieg als ein dionysisches Element ein, und dieses Element beinhaltet auch „die Bereitschaft zum lustvollen Untergang“.3 Nietzsche, der selbst im Krieg einige Wochen als Sanitäter beteiligt war, sieht im Krieg als zerstörerischer Macht des Dionysus eine positive Potenz, und zwar erwartet er, dass dem Vernichten das Werden folgt, mit anderen Worten erhofft er eine Erneuerung der Kultur. Die Grausamkeit des Krieges um der Erneuerung der Kultur willen scheint übertrieben und grauenvoll zu sein. Daher hat der Krieg eine Umgestaltung durch die bildende apollinische Kraft nötig.4 Nietzsche greift wieder auf das Vorbild der Griechen, die „ein Beispiel dafür, wie diese kriegerische Grausamkeit sublimiert werden kann durch den Wettkampf, der überall stattfindet, in der Politik, im gesellschaftlichen Leben, in der Kunst.“5 „Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage: der Krieg ist es, der jede Sache heiligt!“6 schreibt er im November 1882 – Februar 1883.

Auch auf der kulturellen Ebene balancieren die zwei grundlegenden Lebensmächte, das Dionysische und Apollinische, einander aus. Jede Kultur benötigt apollinische Bilder, um das Leben ertragen zu können, aber es besteht die Gefahr, dass die Kultur erstarrt und die dionysische Dynamik verliert, und dann muss sich das Dionysische wieder in den Weltprozess deutlicher einmischen.7

Ein anderer Grund, den Krieg als eine unabdingbare Komponente der Entwicklung anzusehen, besteht darin, dass die Kultur für Nietzsche die oberste Position in der Pyramide der Menschheitswerke. Alles andere ist ihr untergeordnet: Gelehrsamkeit, Religion, Staat.8

Kennzeichnend dafür, welche Bedeutung die Kultur hat, ist, wie Nietzsche die Rolle des Künstlers in einer Gesellschaft einschätzt. So heißt es am Ende 1870 – April 1871:

„Ich würde aus meinem idealen Staate die sogenannten ‚Gebildeten‘ hinaustreiben, wie Plato die Dichter: dies ist mein Terrorismus.“9

Die Dichter, die Künstler dürfen keinesfalls aus dem Nietzsches Staat ausgetrieben werden. Ganz im Gegenteil, für ihr Wohlergehen müssen alle Bedingungen erschaffen werden. Auch in dieser Hinsicht ist das antike Griechenland ein Vorbild für Nietzsche. Er verteidigt die damalige Sklaverei als notwendige Bedingung für das Wohl der „höchsten Exemplaren“ einer Gesellschaft, die ihrerseits den Beitrag zum Aufblühen der Kultur leisten.10 Nietzsche hat keineswegs illusionäre Vorstellungen bezüglich der Sklaverei, vielmehr lobt er die grausame Ehrlichkeit der Griechen, die „die letzten Geheimnisse ‚vom Schicksale der Seele‘ und Alles, was sie über die Erziehung und Läuterung, vor Allem über die unverrückbare Rangordnung und Werth-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen zu deuten suchten: […]“.11 Es ist auch nicht so, dass Nietzsche die Demokratie verachtet, weil sie zu Gleichheit der Menschen untereinander führt. Er glaubt einfach nicht, dass in einem demokratischen Staat, das Verhältnis sich ändert. Die demokratische Gleichheit ist für ihn eine Lüge:

In neuerer Zeit wird die Welt der Arbeit geadelt, aber das sei Selbstbetrug, denn an der fundamentalen Ungerechtigkeit der Lebensschicksale, die den einen die mechanischen Arbeit und den Begabteren das schöpferische Tun zuweist, ändere auch die Begriffs-Hallucination von der Würde der Arbeit nichts."12

Nietzsche zieht sozusagen die dionysische Wahrheit, die besagt, dass das menschliche Sein von vornherein ungerecht ist, der apollinischen Einbildung, dass die Demokratie eine Gerechtigkeit gleicher Menschen garantieren kann, vor. Nietzsche idealisiert auch die privilegierte Kaste eines derartigen Staates nicht und fragt sich, „[o]b man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen“.13 Nietzsche beschreibt diese Welt als eine „Sich-selber-widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt -: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens“.14 Als dionysische Welt ist sie in sich absurd und widersprüchlich. Die Vereinigung der Gegensätze in sich ist auch der Maßstab für die Größe des Künstlers und das ist auch eben, was ihn „böse“ macht, denn den Tugenden wohnt der Frevel bei, die kreative Kraft wird durch die zerstörerische vervollständigt. So antwortet Nietzsche auf seine Frage:

„[D]ie Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze, und aus deren Gefühle, gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht.“15

Genauso wie der Krieg ein Aspekt der Kultur ist, ohne den Nietzsche ihre dynamische Entwicklung sich nicht vorstellen kann, genauso ist die prinzipielle Ungleichheit und Grausamkeit der Menschen gegenüber einander etwas, worauf die Kultur beruht, und was sie apollinisch, d.h. für den Menschen erträglich zu gestalten sucht. Und so verwendet Nietzsche dieselben Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen, die er entdeckt hat, um das kulturelle Leben einer Gesellschaft zu beschreiben.

Hayman, Ronald, Friedrich Nietzsche: Der mißbrauchte Philosoph; übersetzt von Egbert von Kleist. München 1985.
Nietzsche, Friedrich, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl; herausgegeben von Günter Wohlfart. Stuttgart 1996.
Safranski, Rüdiger, Nietzsche: Biographie seines Denkens. München; Wien 2000.

  1. F. Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, hg. von G. Wohlfart, Stuttgart 1996, 163.↩︎

  2. R. Safranski, Nietzsche: Biographie seines Denkens, München; Wien 2000, 59.↩︎

  3. ebd.↩︎

  4. Vgl. ebd. 58–61.↩︎

  5. ebd. 62.↩︎

  6. Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, 109.↩︎

  7. Vgl. Safranski, Nietzsche, 62 f.↩︎

  8. Vgl. R. Hayman, Friedrich Nietzsche: Der mißbrauchte Philosoph, übers. von E. von Kleist, München 1985, 63.↩︎

  9. Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, 22.↩︎

  10. Vgl. Hayman, Friedrich Nietzsche, 67.↩︎

  11. Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, 169.↩︎

  12. Safranski, Nietzsche, 68.↩︎

  13. Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, 147.↩︎

  14. ebd. 158.↩︎

  15. ebd. 147.↩︎