Dubitō ergō nōn esse possim

Der Heimweg ins Reich des Selbst

Nosce te ipsum.

Oraculum Delphis

Seit der Entstehung der Menschheit wunderte man sich über die Welt, die einen umgibt. Man fragte sich, wie die Umwelt funktioniert, was hinter den natürlichen Ereignissen steht, suchte nach Gesetzmäßigkeiten und legte auf diese Weise den ersten Grundstein für das Gebäude der Physik. Dieses Projekt war jedoch anscheinend so komplex, dass manche Philosophen sich wenige Jahrhunderte später die Ansicht aneigneten, dass es überhaupt keine Wahrheit sondern nur Schein und Täuschung gebe. Durch Grübelei und Diskutieren gelangte man schließlich zum Zentrum seines Daseins, zu seinem Selbst, und stellte sich nun die Frage: „Was bin ich? Habe ich zumindest eine sichere Erkenntnis, dass es mich selbst tatsächlich gibt, oder bin ich auch ein bloßer Schein, eine Selbsttäuschung?“

Die so für den gemeinen Menschen merkwürdige Frage nach dem eigenen Sein wurde schon so oft gestellt, obwohl nichts sicherer zu sein scheint, als, dass es mich, wie ich mich empfinde, tatsächlich gibt. „Sei du selbst!“ hört man oft. Was soll ich sein? Immer wieder versuchen die Philosophen auf diese Frage eine Antwort zu geben, abstrahieren sich von ihren Vorgängern, um ihre Fehler nicht zu erben und versuchen ihr System komplett und vollständig vom Anfang an aufzubauen.

René Descartes erhob den Anspruch, das menschliche Denken auf einen festen Boden zu stellen. 1637 veröffentlichte er den „Discours de la Méthode“, wo er unter Anderem das Thema, was der Mensch ist und was der Mensch nicht ist, behandelt. Wie gründlich und sicher der von ihm gelegte Weg ist, möchte ich im Folgenden einer Prüfung unterziehen.

Kritik an Descartes’ Grundsatz

Die heimatlose Seele

„Danach prüfte ich mit Aufmerksamkeit, was ich war, und sah, daß ich so tun konnte, als ob ich keinen Körper hätte und es weder eine Welt noch einen Ort gäbe, an dem ich mich befand. […] Deshalb ist dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, vollkommen unterschieden vom Körper […].“

Der Leib sei kein notwendiger Bestandteil des Menschen, da die Seele (die eigentliche Substanz, das Denkende) von keinem materiellen Ding abhänge.1 Mein Vorstellungsvermögen reicht weder aus, um eine Seele, noch überhaupt etwas Nicht-Materielles vorzustellen. Descartes verwechselt einen Begriff mit einer Vorstellung. Man hat einen Begriff der Seele, aber keine Vorstellung davon, man hat einen Begriff der Unendlichkeit, aber keine Vorstellung des Unendlichen,2 einen Gottesbegriff, aber keine Vorstellung von Gott. Deswegen werden die Gespenster in den Filmen zwar nicht als Menschen dargestellt, aber als einigermaßen materielle Wesen, die man entweder sieht oder hört oder auf eine andere Weise spürt (etwas Anderes ist gar nicht vorstellbar); deswegen gibt es kirchliche Ikonen und Pilgerfahrten, weil man etwas Übersinnliches kaum verehren kann.

Meine Gedanken sind meine Gäste

„Daraus erkannte ich, daß ich eine Substanz war, deren ganzes Wesen oder deren ganze Natur nur darin bestand, zu denken […].“

Descartes definiert den Menschen als res cogitans,3 die Wladimir Solowjow seinerseits als „cartesianisch[en] Bastard“4 bezeichnet, weil jener dem Subjekt das zuschreibe, was ihm nicht mit Sicherheit gehöre. Kein Mensch hat sich jemals mit seinen Gedanken identifiziert, was schon aus dem Sprachgebrauch zu sehen ist: eine Idee haben, to have an idea (englisch), avoir une idée (französisch), иметь идею (russisch) — und ähnlichen Ausdrücken, wie mir ist etwas eingefallen, mir ist ein Gedanke gekommen.

Andererseits haben viele Menschen ein Gewissen. Wie oft bereut ein Erwachsener, dass er seinen Eltern Unrecht getan hat, indem er ihnen falsche Motive unterstellte. Ich bereue also Gedanken, die ich hatte, als ob sie mir fremd gewesen wären. Auf dasselbe läuft die christliche Patrologie hinaus: „denn es fordert von dir der Herr, daß du über dich selbst zürnest und gegen deinen Sinn kämpfest, nicht übereinstimmest und liebäugelst mit den Gedanken der Bosheit.“5[Eigene Hervorhebung] Folglich kann man sehr wohl glauben, dass, was nach Descartes den Menschen ausmacht, das Denken, nicht das Subjekt selbst ist, sondern, zumindest teilweise, von außen kommt (von Gott oder dem Teufel zum Exempel).

Die Traumwelt oder die Welt des Traumes

Die Nacht, die wir in tiefem Schlummer sehen,
Ein Engel schuf sie hier aus diesem Stein,
Und weil sie schläft, muss sie lebendig sein,
Geh, wecke sie, sie wird dir Rede stehen.

Giovanni Strozzi auf die „la Notte“ von Michelangelo

Descartes behauptet, dass die Gedankenwelt eines Traumes niemals so evident und vollständig wie diese der Realität sei.6 Wie kann man zu diesem Schluss kommen? Man vergleicht das Realitätsbewusstsein mit demjenigen eines Traumes, was allerdings gar nicht in die umgekehrte Richtung geht: Im Traum gelten andere Gesetze, die in diesem Moment unvergleichbare Evidenz und Vollständigkeit haben. Wenn ich also eine zweite Realität annehme und ich nur das Produkt eines Traumes eines Marsianers bin, dann sind die Gedankengänge meiner Wirklichkeit genauso lächerlich und absurd für die zweite Realität.

Die zweite Bedingung für die Vergleichbarkeit zweier Welten (Schlaf- und Wachzustandes) ist die Zeit, da man momentanes Bewusstseinsgut mit einem in der Vergangenheit liegenden Traum vergleicht. „Aber was ist eigentlich diese Summe des Vergangenen? Liegt sie in meiner Hosentasche oder befindet sie sich auf meinem Konto in der Bank? Sie existiert doch nur in dieser Minute, bloß als eine Erinnerung, d.h. ein Bewusstseinszustand, ungetrennt davon, was ich nun empfinde, und es ist selbstverständlich, dass im Fall einer Illusion des Bewusstseins, sie auch eine Illusion des Gedächtnisses beinhaltet: […]“7 Warum, wenn unsere Sinnesorgane uns keine objektive Darstellung des Raumes liefern, soll ich annehmen, dass die Zeit nicht auch so ein Betrug ist.

Man kann seine Vergangenheit ganz leicht und schnell rekonstruiren, auch wenn diese Rekonstruktion nicht im Geringsten der Wahrheit entspricht, ohne dabei die Absicht zu lügen zu haben. Juristen sind so genannte Knallzeugen bekannt. „Der Knallzeuge funktioniert so: Es hat sich ein Autounfall ereignet, zwei Fahrzeuge sind auf einer Kreuzung ineinander gerast; nun gilt es herauszufinden, wer die Schuld trägt. Glücklicherweise existiert ein Zeuge, der vor Gericht den Unfallhergang in allen Einzelheiten beschreiben kann. […] [D]er erfahrene Richter hat das Kinn in die Hand gestützt, hört dem Zeugen aufmerksam zu und stellt schließlich die Frage, die man ihm im Referendariat beigebracht hat: ‚Und wie sind Sie auf das Unfallgeschehen aufmerksam geworden?‘ Der Zeuge antwortet: ‚Als es so schrecklich knallte, habe ich mich umgedreht.‘“8 Der Zeuge erzählte, was er gar nicht gesehen hatte, wobei er selbst von seiner Geschichte so überzeugt war, dass er die Widersprüchlichkeit seiner Aussagen gar nicht bemerkte. Umso mehr kann ich daran glauben, dass ich ein seine Seminararbeit schreibender Philosophiestudent bin, der sich ganz deutlich an sein Abitur erinnern kann, auch wenn ein Marsianer von mir erst seit zwei Minuten träumt.9

Auf den Kredit Gottes10

„Denn erstens ist sogar das, was ich soeben als Regel angenommen habe — nämlich daß alle die Dinge, die wir sehr klar und sehr deutlich verstehen, wahr sind —, nur sicher, weil es Gott gibt oder er existiert und er ein vollkommenes Sein ist und alles, was es in uns gibt, von ihm herkommt.“

Den nächsten Schritt, den Descartes tut, um die wirkliche Existenz von res cogitans und res extensa11 zu rechtfertigen, ist der Gottesbeweis, wobei bereits Schopenhauer bemerkte, dass dieser Vorgang selbst „freilich wunderlich“ ist: „[…] es ist der umgekehrte kosmologische [von der Existenz der Welt auf einen Urheber schließende] Beweis.“12 Der Autor des Discours’ schließt vom Vorhandensein des Begriffes der Vollkommenheit bei dem selbst unvolkommenen Menschen auf die Existenz eines vollkommenen Wesens. Diese Vollkommenheit muss bei Descartes das Gute bedeuten, weil er aus ihr den Schluss zieht, dass die Außenwelt wirklich ist, weil dieses Wesen uns anscheinend nicht betrügen darf. Es stellt sich allerdings die Frage, was „gut“ bedeutet. Der Begriff des Guten ist in uns gelegt, aber er hat keine übermenschliche Bedeutung. Es könnte eine Welt geben, wo der Mord als gut betrachtet wird, aus dem Grund, dass das oberste Wesen dies als etwas Gutes definiert und in uns legt. Man kann also von unserem Begriff der Vollkommenheit beziehungsweise des Guten nicht auf die Begrifflichkeit des Schöpfers schließen, der selbst diese Begriffe definierte und definieren kann. Unser Schöpfer könnte ein Dämon sein, der um uns herum eine Illusion erschuf und uns glauben ließ, dass er ein vollkommen gutes Wesen sei (also von meiner Sicht dessen, was gut ist).

Außerdem widerspricht sich Descartes, wenn er behauptet, dass man von der Vorstellbarkeit der Vollkommenheit auf einen volkommenen Gott schließen kann13 und an einer anderen Stelle schreibt, dass man von der Vorstellbarkeit einer Chimäre nicht auf ihre Existenz schließen darf14 (zwar ist offensichtlich, dass er im letzten Fall eine bildliche Anschauung meint, aber zumindest kann ich mir eine Chimäre anhand meines Anschauungsvermögens leichter als Gott vorstellen, von dem ich nichts Sicheres sagen kann).

Einen anderen treffenden Einwand bringt Schopenhauer: „Hiebei läßt er überdies sich nun eigentlich noch einen bedeutenden circulus vitiosus [Zirkelschluß] zu Schulden kommen. Er beweist nämlich die objektive Realität der Gegenstände aller unserer anschaulichen Vorstellungen aus dem Daseyn Gottes, als ihres Urhebers, dessen Wahrhaftigkeit nicht zuläßt, daß er uns täusche: das Daseyn Gottes selbst aber beweist er aus der uns angeborenen Vorstellung, die wir von ihm, als dem allervollkommensten Wesen angeblich hätten.“15 — und macht einen angemessenen Schluss, indem er einen von Descartes’ Landesleute zitiert: „Il commence par douter de tout, et finit par tout croire [Er fängt damit an, daß er alles bezweifelt, und hört damit auf, daß er alles glaubt] […].“16

Das Ich und seine Subjekte

Man könne an seinem eigenen Dasein nicht zweifeln, behauptet der Autor, was allein der Tatsache widrig ist, dass man daran tatsächlich zweifelt. Was man nicht behaupten kann, ist, dass man an etwas nicht zweifeln kann, woran man schon Jahrtausende lang und bis in unsere Tage erfolgreich zweifelt und was daher verständlicherweise nicht so einfach zu leugnen ist.17 Andererseits muss man Descartes Recht geben, dass es etwas gibt, was ich nicht bezweifeln kann, weil, wenn ich sage: „Ich bezweifle etwas“, identifiziere ich mich doch mit einem Ich. Ganz unabhängig davon, ob ich jetzt träume oder wach bin, ist mir etwas bewusst, was meinerseits als Ich bezeichnet wird. Dieses Ich empfindet sich als ein Subjekt, eine Form, deren Inhalt zweifelhaft ist.

Folglich muss die cartesianische denkende Substanz in zwei Teile ausdifferenziert werden, wobei ich auf Solowjows Termini zurückgreifen möchte und den einen Teil als reines (phänomenologisches) Subjekt und den anderen als psychisches (empirisches) Subjekt bezeichnen. Jenes ist sicher und unerschütterlich, da es uns auf dem unmittelbarsten Wege gegeben ist, aber leer, dieses erfüllt und bunt, weil es die ganze Persönlichkeit enthält, dennoch wackelig und grundlos.18

Ego cogito ergo sum sed quis ego sum?

„Cartesius gilt mit Recht für den Vater der neuern Philosophie […].“

Arthur Schopenhauer19

Das große Verdienst Descartes’ ist, dass er die spätere Philosophie auf den Weg hinwies, auf dem man nicht von eingebildeten Pseudo-Wahrheiten lebt, sondern konstruktiv zweifelt, um einen Fortschritt der philosophischen Forschung zu ermöglichen, ohne dabei in der Sackgasse des Skeptizismus zu enden. Einmal auf diesen Weg getreten wollte er ihn unglücklicherweise selber nicht zu Ende gehen. Allein daran, dass seine Schriften immer noch Aufregung, Nachdenken und Diskussionen in der philosophierenden Welt hervorrufen, kann man ersehen, wie unentbehrlich seine Erbe an das Moderne ist.

Nun ist das reine Ich menschlicher Erkenntnis unzugänglich. Man ist nur fähig reflexiv über das empirische Ich — über seinen Charakter und die Summe psychischer Zustände — die einen zum Individuum machen, nachzudenken. Das reine Ich macht in dieser Hinsicht dieselben Schwierigkeiten, wie der Versuch, die eigenen Ohren ohne einen Spiegel zu betrachten. Bin ich eine willensfreie Persönlichkeit?, eine Puppe im Theater eines mir fremden Wesens?, ein Splitter, der eigentlich mit einer Gottheit zusammen, die zugleich die Welt ist, und die aus nur ihr bekannten Gründen plötzlich ihre Harmonie und ihr Gleichgewicht verlor, ein Ganzes bildet?, ein armer und einsamer Knecht seines Schicksals, der sich einbildet, dass er etwas sieht, hört, mit jemandem spricht?, das zufällige Produkt der blinden Natur, die kein einziges Gramm Geist enthält?

Descartes, René, Discours de la Méthode; herausgegeben und übersetzt von Christian Wohlers. Hamburg 2011.
———, Principia philosophiae. Amstelodami: apud Johannem Jansonium Juniorem 1656.
Makarius der Ägypter, Des heiligen Makarius des Ägypter fünfzig geistliche Homilien; herausgegeben von O. Bardenhewer, Th. Schermann und K. Weyman, übersetzt von Dionys Stiefenhofer. Kempten; München: Kösel 1913.
Schopenhauer, Arthur, Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, von Arthur Schopenhauer.; herausgegeben von Claudia Schmölders, Fritz Senn und Gerd Haffmans; Bd. 1. Zürich 1977.
Zeh, Juli/Oswald, Georg M., Aufgedrängte Bereicherung: Tübinger Poetik-Dozentur 2010; herausgegeben von Dorothee Kimmich und Philipp Alexander Ostrowicz und Anja-Simone Michalski. Künzelsau: Swiridoff Verlag 12011.
Соловьев, В. С., Теоретическая философия, in: С. М. Соловьева/Э. Л. Радлова (Hgg.), Собрание сочинений Владимира Сергеевича Соловьева: В 10 т.; Bd. 8. Спб.: Просвещение 21913.

  1. R. Descartes, Discours de la Méthode, hg. und übers. von C. Wohlers, Hamburg 2011, 59.↩︎

  2. Übrigens entspringen die bekannten Paradoxa Zenos von Elea daraus, z.B. jenes, dass ein Stab in zwei Teile getrennt werden kann, einer dieser Teile noch in zwei und so ad infinitum. Es gibt folglich einen Begriff vom Unendlichen (unendlichen Teilen in diesem Beispiel), mit dem man jedoch nichts anfangen kann, weil keine Vorstellung gegeben ist. Wo das Fehlen der Vorstellung mit einem vorhandenen Begriff zusammenstößt, entsteht ein Parodoxon (eine Antinomie bei Kant).↩︎

  3. Vgl. R. Descartes, Principia philosophiae, Amstelodami 1656, 14–16.↩︎

  4. В.С. Соловьев, Теоретическая философия, in: С.М. Соловьева/Э.Л. Радлова (Hgg.), Собрание сочинений Владимира Сергеевича Соловьева: В 10 т., Bd. 8, Спб. 21913, 115.↩︎

  5. Makarius der Ägypter, Des heiligen Makarius des Ägypter fünfzig geistliche Homilien, hg. von O. Bardenhewer, Th. Schermann und K. Weyman, übers. von D. Stiefenhofer, Kempten; München 1913, 17.↩︎

  6. Vgl. Descartes, Discours de la Méthode, 69 f.↩︎

  7. Соловьев, Теоретическая философия, 121.↩︎

  8. J. Zeh/G.M. Oswald, Aufgedrängte Bereicherung: Tübinger Poetik-Dozentur 2010, hg. von D.K. und Philipp Alexander Ostrowicz und A.-S. Michalski, Künzelsau 12011, 17.↩︎

  9. Vgl. Соловьев, Теоретическая философия, 121.↩︎

  10. Vgl. A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, von Arthur Schopenhauer., hg. von C. Schmölders, F. Senn und G. Haffmans, Bd. 1, Zürich 1977, 13.↩︎

  11. Vgl. Descartes, Principia philosophiae, 14–16.↩︎

  12. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, 13.↩︎

  13. Vgl. Descartes, Discours de la Méthode, 59–63.↩︎

  14. Vgl. ebd. 69.↩︎

  15. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, 91.↩︎

  16. ebd.↩︎

  17. Vgl. Соловьев, Теоретическая философия, 109.↩︎

  18. Vgl. ebd. 123.↩︎

  19. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, 13.↩︎